15.08.2014 16:52:30

Volkswirte sehen deutschen Wachstumskurs nur unterbrochen

   Von Andreas Kißler

   BERLIN--Der vom Statistischen Bundesamt vermeldete Rückgang des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP) hat Befürchtungen genährt, Deutschland könnte seine Funktion als europäische Wachstumslokomotive verlieren. Doch Ökonomen glauben nicht, dass die deutsche Wirtschaft nach dem Rückschlag dauerhaft den Wachstumskurs verlassen wird. Der Konsum in Deutschland sei immer noch erfreulich stark, und hinter der Delle stünden vor allem die weltweiten Krisen und die Schwäche großer Euro-Staaten, sagen sie.

   "Eigentlich hat sich an der Grundaussicht nichts geändert", erklärte der Konjunkturchef des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Joachim Scheide. "Es funkt etwas dazwischen aus dem Ausland, das kann den Aufschwung ein bisschen unterbrechen und verzögern - aber es ändert eigentlich nichts an der Geschichte."

   Deutschland habe derzeit kein fundamentales Problem. "Das Problem ist die Eurozone, wir sehen dass die großen Volkswirtschaften da vor sich hin dümpeln." Scheide verwies auf die jüngsten Negativ-Entwicklungen in Frankreich und Italien. "Die europäische Konjunktur ist eigentlich nicht so robust, wie man das gedacht hat, von dort drohen die größten Gefahren", warnte er.

   Auch der Chefökonom des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), Oliver Holtemöller, betonte eine weiter intakte Grundlage für Wachstum in Deutschland. "Die Reallohnentwicklung ist ja weiter sehr positiv in Deutschland, und der Konsum hat sich positiv entwickelt", hob der Hallenser Ökonom hervor. Er verwies darauf, dass die Statistiker vor allem den Außenhandel und die geringen Investitionen für den Rückgang verantwortlich machten. "Das lässt darauf schließen, dass die geopolitischen Risiken der wichtigste Faktor waren."

   Zudem gebe es durch das gute erste Quartal einen statistischen Effekt, denn die Saisonbereinigung erfasse nicht, wenn ein Winter wie dieses Jahr außergewöhnlich milde sei. "Deshalb ist ein Teil dieses Rückgangs auch ein statistisches Artefakt - deshalb würde ich das auch nicht überbewerten", sagte Holtemöller. Auch er verwies auf die Wirtschaftslage in Frankreich und Italien als zusätzlichen Faktor.

   Die jüngsten Zahlen von Destatis haben belegt, dass Europas Wachstumsmotor Deutschland im Frühjahr ins Stottern gekommen ist. Das deutsche BIP, also die Summe aller in Deutschland produzierten Waren und Dienstleistungen, schrumpfte im zweiten Quartal dieses Jahres um 0,2 Prozent. "Die deutsche Wirtschaft verliert an Schwung", konstatierten die Statistiker.

   Die Volkswirte hatten eine Abschwächung erwartet, nachdem das erste Vierteljahr wegen des sehr milden Winters ein sehr kräftiges Wachstum der Wirtschaftsleistung gezeigt hatte und inzwischen durch die internationalen Krisen neue Belastungsfaktoren aufgekommen waren. Sie hatten allerdings im Durchschnitt nur mit einem Rückgang von 0,1 Prozent gegenüber dem Vorquartal gerechnet.

   Der Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, Christoph Schmidt, warnte aber bereits am Donnerstag davor, dem Rückgang des BIP zu viel Bedeutung beizumessen. "Man darf das auch nicht überbewerten", sagte Schmidt im ARD-Morgenmagazin. "Die Konjunktur ist natürlich in einem Auf und Ab." Die Konjunkturentwicklung fuße momentan "auf einem breiten Fundament", betonte auch er. "Das ist insbesondere die Stabilität des Arbeitsmarktes."

   Und der Chefökonom des Bankhauses Lampe, Alexander Krüger, sah eine Konjunkturdelle, aber keinen Einbruch. "Wir halten Sorgen vor einem Konjunkturabsturz für übertrieben", sagte er dem Wall Street Journal Deutschland und verwies auf den Konsum und die Bauinvestitionen.

   Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, betonte ebenfalls die grundlegende Stärke der deutschen Konjunkturentwicklung. "Wir sollten keine zu frühe Panik machen", sagte er am Freitag im RBB. "Wir werden wahrscheinlich in diesem Jahr eine Wachstumszahl von etwas über 1 Prozent haben - also gar nicht so schlecht dastehen," sagte er voraus. "Diese Schwächephase ist eine relativ begrenzte, wenn natürlich nicht noch etwas Schlimmeres in Russland, Ukraine oder dem Rest der Eurozone passiert - aber normalerweise sollten wir aus dieser Schwächephase relativ schnell wieder herauskommen."

   Klar ist allerdings, dass die Wachstumsprognosen der großen volkswirtschaftlichen Institute und vieler Banken für dieses Jahr nicht zu halten sein werden. Einige von ihnen haben bereits ihre Prognosen für das Gesamtjahr gesenkt. So erwarten die NordLB und das Bankhaus Lampe nun nur noch 1,5 Prozent Wachstum. Andere haben Abwärtsrevisionen angekündigt - wie IfW-Ökonom Scheide und IWH-Volkswirt Holtemöller, deren Institute bisher mit ihren Prognosen für das diesjährige deutsche Wirtschaftswachstum bis an die Marke von 2 Prozent gegangen waren.

   "Da muss man natürlich neu überlegen", sagte Scheide, ohne aber den Umfang einer Revision zu beziffern. "Wie stark das bei der nächsten Prognose ausfällt, muss man sehen." Auch das IWH werde seine bisherige Prognose von 2,0 Prozent Wachstum "sicher herunterfahren müssen", sagte Holtemöller. "Es werden sicher ein paar Zehntelprozentpunkte sein."

   DIW-Chef Fratzscher liegt mit der von ihm genannten Zahl ebenfalls deutlich unter der bisherigen Prognose seines Instituts. Er rechnete sogar mit einer "technischen Rezession" durch einen erneuten Rückgang des BIP auch im dritten Quartal. "Wir werden wahrscheinlich im dritten Quartal noch einmal eine leichte Abschwächung sehen und damit zwei Quartale hintereinander mit negativem Wachstum haben", erwartete er. Technisch gesehen bedeute dies eine Rezession. "Aber gleichzeitig sollten wir danach doch wieder einen Aufschwung in Deutschland sehen."

   Scheide schloss ebenfalls nicht aus, dass es auch im dritten Quartal zu einer weiteren Schrumpfung der deutschen Wirtschaftsleistung kommen könnte. "Aber ich würde dann nicht das Wort Rezession in den Mund nehmen", mahnte er. "Das ist gerade für Deutschland jetzt völlig abwegig, darüber zu reden."

   Holtemöller ging hingegen davon aus, dass es im dritten und vierten Quartal eine "schwarze Null" beim Wachstum geben werde. Für das dritte Quartal sah er ein Wachstum von rund 0,1 Prozent. "Das vierte Quartal sieht auch weiter schwach aus, aber nicht negativ", prognostizierte Holtemöller.

   Auch die Bundesregierung hat bereits höhere Risiken eingeräumt, aber generell eine weiter positive Grundtendenz für die wirtschaftliche Entwicklung betont. "Die geopolitischen Risiken im Osten Europas und im Nahen Osten sowie eine schwächere Entwicklung im Euroraum haben vorübergehende Bremsspuren in der deutschen Wirtschaft hinterlassen", konstatierte Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) in einer Mitteilung nach der Bekanntgabe der enttäuschenden BIP-Zahlen.

   Im ersten Halbjahr insgesamt habe sich die Wirtschaftsleistung aber verbessert, und der Arbeitsmarkt habe sich weiter erfreulich entwickelt. "Die Wachstumsraten in Deutschland dürften im weiteren Verlauf dieses Jahres wieder in den positiven Bereich zurückkehren", erwartete deshalb auch Gabriel.

   Kontakt zum Autor: andreas.kissler@wsj.com

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   August 15, 2014 10:49 ET (14:49 GMT)

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