08.10.2015 20:52:37
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Landeszeitung Lüneburg: Nationalstaat als Keimzelle des Hasses - Interview mit dem Historiker Prof. Dr. Wolffsohn über den Zerfall der Nahost-Ordnung
Im Nahen Osten zerfällt die mit dem Sykes-Picot-Abkommen etablierte koloniale Ordnung. Staaten wie Syrien und der Irak zerbrechen. Ist das für den palästinensisch-israelischen Konflikt eher eine Chance, weil neue Gebilde entstehen, oder eine Bürde, weil der Konflikt von der Tagesordnung rutscht?
Prof. Michael Wolffsohn: Es wäre eine große Gelegenheit, zumindest diese Staaten auf eine vernünftige Weise umzuformen. Die Nahost-Staatenwelt, die nach dem Ersten Weltkrieg entstand und von jenem verhängnisvollen Abkommen geprägt wurde, war eine Totgeburt. Das Sterben wurde massenhaft, blutig und dauert immer noch an. Diese faktisch toten Staaten zu stabilisieren, ist unmöglich. Auch Israelis und Palästinenser müssen neu denken. In föderativen Modellen. Alles andere birgt programmiertes Blutvergießen. Besonders die Zweistaatenlösung, die keine Lösung, sondern ein weiteres Problem ist.
War der Auftritt von Mahmud Abbas vor den UN nicht mehr als der Verzweiflungsschrei, um die Palästinenser aus dem Aufmerksamkeits-Abseits zu holen?
Prof. Wolffsohn: Aufmerksamkeit bedeutet nicht Fortschritt. Und Fortschritt, vor allem Frieden, ist nur erreichbar, wenn die sich bekriegenden Akteure Frieden wollen. Frieden ist also ein Problem von innen. Aufmerksamkeit von außen bringt Frieden keinen Millimeter näher.
Die Fatah verliert mehr und mehr an Boden gegenüber der Hamas. Ist Abbas bereits so geschwächt, dass er nicht mal das Oslo-Abkommen aufkündigen kann, wie erwartet worden war?
Prof. Wolffsohn: Abbas ist eine tragische Figur. Er hat guten Willen, ist aber schwach. Er präsidiert, aber er führt nicht. Das Oslo-Abkommen zu kündigen, wäre Selbstmord für ihn. Ohne die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit Israel hätte ihn die Hamas schon längst weggebombt.
Birgt die Zerstrittenheit der Palästinenser untereinander und ihre Instrumentalisierung durch arabische "Bruderstaaten" die Gefahr einer dritten Intifada, weil die Bekämpfung Israels identitätsstiftend wirkt?
Prof. Wolffsohn: Die Intifada als Volksaufstand würde ja heißen: Die Palästinenser hätten einen einheitlichen Willen und Weg. Ein Volksaufstand ist ebenfalls eine Entscheidung des Volkes von innen, nicht von außen. Was die Bruderstaaten dabei machen oder nicht machen, ist zweitrangig. Eine dritte, vierte fünfte undundund Intifada würde die Palästinenser immer weiter zurückwerfen. Das ist eine Variante des Selbstmords. Vor der ersten Intifada, 1987, gab es im Westjordanland rund 75 000 jüdische Siedler, 1993, am Ende 130 000. Zu Beginn der Zweiten Intifada, im Jahre 2000, waren es 167 000, heute sind es circa 500 000. Die Bilanz ist eindeutig.
Nach dem Gazakrieg 2014 stockt der Wiederaufbau. Ernüchterte Palästinenser wenden sich von der Hamas ab, erste IS-Fahnen wurden bereits gesehen. Schadet sich Israel selbst, wenn es die Hamas als Ordnungskraft ausschaltet?
Prof. Wolffsohn: Wie bitte? Hamas, eine Ordnungsmacht? 2005 räumte Israel den gesamten Gazastreifen. Das war eine Riesenchance für die Palästinenser. Dann begann Hamas den Bürgerkrieg und bombte bis 2007 die Fatah von Abbas & Co raus. Es folgte der Hamas-Raketenhagel auf Israel. Das entsprach einer Einladung an Israel, Hamas-Gewalt mit Gegengewalt zu beantworten. Israel ließ sich nicht lange bitten und schlug heftig zu. Teil I der sogenannten Ordnung, sprich: Tragödie. Kurz war Ruhe. Dann wieder Raketenhagel auf Israel. Einladung zwei. Nun legte Israel weite Teile des Gazastreifens in Schutt und Asche. Nun erkennt Hamas den Schaden. Starke Hamas-Worte prasseln auf Israel ein, aber keine Hamas-Raketen mehr. Jetzt will der IS starken Worten Taten folgen lassen. Die Folgen sind vorhersehbar: Der Tragödie dritter, vierter und so weiter Teil. Wenn die Palästinenser auf Gewalt verzichten, stärken sie das Friedenslager in Israel. Dann, nur dann und bekommen, was sie wollen: Echte Selbstbestimmung.
Können in Nahost nationalstaatliche Lösungen gefunden werden ohne vorherige "ethnische Säuberungen"?
Prof. Wolffsohn: Um Himmels willen, ethnische "Säuberungen". Wenn aber nicht politisch neu gedacht wird, wird genau das weiter gemacht. Siehe Syrien, siehe Irak. Einer multinationalen Gesellschaft können sie keinen Nationalstaat aufpropfen. Das ist eine Totgeburt. Genau das geschah nach dem Ersten Weltkrieg. Wenn deutsche und andere europäische Politiker, Journalisten und sogenannte Experten sagen, sie wollten den Irak, Syrien und so weiter stabilisieren, beweisen sie ihre Ahnungslosigkeit. Was nicht stabilisierbar ist, kann nicht stabilisiert werden.
Verbaut Israels Siedlungspolitik die Chancen auf eine politische Lösung des Konfliktes?
Prof. Wolffsohn: Der Konflikt tobt seit 1882. Diese Siedlungspolitik gibt es erst seit 1977. Wenn man Selbstbestimmung dem Land geben will und nicht den Menschen, dann ist die Siedlungspolitik ein Hindernis. Ich habe das in meinem Buch "Zum Weltfrieden" ausführlich erklärt. Seit 1977 ist die Siedlungspolitik eine beliebte Politik-Platte bzw. -CD, die aufgelegt wird, um den politischen Stillstand zu erklären. Vorher gab es andere Platten. Entscheidend ist: Wer in Mustern herkömmlicher Nationalstaaten denkt, erkennt nicht das Problem. Es lautet: Wie muss ein Staat für multinationale Gesellschaften aufgebaut sein? Die Antwort ist eindeutig: föderalistisch. Eine Mischung aus Bundesstaat und Staatenbund. Die jeweilige Selbstbestimmung ist, wo möglich, räumlich zuzuordnen, sonst den jeweiligen Volks- und Religionsgruppen zuzuordnen.
Kann der von Ihnen präferierte föderalistische Staatenbund mit garantierten Minderheitenrechten funktionieren, solange Radikale unter Palästinensern und Siedlern den Hass schüren?
Prof. Wolffsohn: In keinem Nahoststaat gibt es visionäre Führungspersönlichkeiten, die Hasspredigern Paroli bieten können oder wollen. Das aber ist leider kein reines Nahostproblem.
250 Jahre sah sich der "Staat der Täter" als Schutzpatron für den "Staat der Opfer". Zeigt das auch mit deutscher Hilfe abgeschlossene Atomabkommen mit dem Iran, das die Zeit endet, in der Berlin eine Art Makler israelischer Interessen war?
Prof. Wolffsohn: Deutschland hat Israel seit Adenauers Zeiten sehr geholfen. Aber "Schutzpatron"? Das ist zu viel Sirup. Israel hat sich selbst geschützt. Das Atomabkommen hat Deutschland in bester Absicht und mit schlimmen Folgen gefördert. Gut gemeint, schlecht gedacht und daher schlecht gemacht. Wozu braucht der Iran Atom? Für seine Energie? Der Iran hat Öl, Gas, Sonne, Wind. Für zivile Energie also unnötig. Ergo: Militärisch. Keiner setzt die A-Bombe ein. Aber das konventionelle Wettrüsten wird beschleunigt. Da ist die Islamische Welt Israel langfristig haushoch überlegen. Sie hat mehr Menschen und mehr Geld. Den Iran für Diplomatie gewinnen? Der Iran mischt gerade jetzt Nahost mehr denn je auf. Im Libanon, in Syrien, Irak, Bahrein, Saudi-Arabien, Jemen, Sinai, also Ägypten, Gazastreifen. Tolle Diplomatie. Und unsere Diplomaten jubeln. Die Tragödie wird als Komödie inszeniert. Ich kann nicht lachen.
Nach der Shoah schwor sich das eine Volk "Nie wieder Täter" und das andere "Nie wieder Opfer". Liegt hier die Ursache für bisweilen fehlendes Verständnis für Israels Front-Staat-Situation?
Prof. Wolffsohn: Eine Ursache, eine sehr wichtige.
Der Nahe Osten ist im Umbruch. Welche Ziele sollte die deutsche und europäische Diplomatie anstreben?
Prof. Wolffsohn: Erst wissen, dann denken, dann handeln - und dieses Modell fördern: Frieden durch Föderalismus.
↔Das Interview führte
↔Joachim Zießler
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