02.06.2019 18:47:41

ROUNDUP: Nahles stürzt - SPD taumelt - Koalition wankt

BERLIN (dpa-AFX) - Nach einem historischen Wahldebakel und einem erbitterten Machtkampf in der SPD hat Andrea Nahles überraschend ihren Rücktritt als Partei- und Fraktionschefin angekündigt. Die SPD stürzt damit noch tiefer in eine Existenzkrise, die auch die große Koalition ins Wanken bringt. CDU und CSU forderten am Sonntag von ihrem Bündnispartner zügige Personalentscheidungen, um die Handlungsfähigkeit der Regierung nicht zu gefährden. Wer Nahles nachfolgt, ist aber noch völlig unklar. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) versicherte: "Wir werden die Regierungsarbeit fortsetzen mit aller Ernsthaftigkeit und vor allen Dingen auch mit großem Verantwortungsbewusstsein."

Nahles kündigte ihren Rückzug nach nur 13 Monaten an der Parteispitze am Sonntagmorgen in einem kurzen Schreiben an die Parteimitglieder an. "Die Diskussion in der Fraktion und die vielen Rückmeldungen aus der Partei haben mir gezeigt, dass der zur Ausübung meiner Ämter notwendige Rückhalt nicht mehr da ist", heißt es darin. Sie werde an diesem Montag und Dienstag in Parteivorstand und Fraktion ihre Entscheidung offiziell bekanntgeben. "Damit möchte ich die Möglichkeit eröffnen, dass in beiden Funktionen in geordneter Weise die Nachfolge geregelt werden kann."

Nahles wird auch ihr Bundestagsmandat niederlegen und sich damit komplett aus der Bundespolitik zurückziehen. An der Partei- und Fraktionsspitze gibt es voraussichtlich zunächst Übergangslösungen. Die Führung der Fraktion soll Vize Rolf Mützenich kommissarisch übernehmen, als vorübergehende Parteivorsitzende ist die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer im Gespräch. Die SPD-Spitze kam am späten Nachmittag zu einer Krisensitzung zusammenkommen.

CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer, die nach einem historisch schlechten Ergebnis ihrer Partei bei der Europawahl selbst angeschlagen ist, bekannte sich zum Bündnis mit den Sozialdemokraten. "Dies ist nicht die Stunde von parteitaktischen Überlegungen. Wir stehen weiter zur großen Koalition", sagte sie, betonte aber auch, dass die große Koalition "kein Selbstzweck" sei. Auch der CSU-Vorsitzende Markus Söder appellierte an die Verantwortung der Sozialdemokraten. "Wir erwarten, dass die SPD dazu beiträgt, dass Deutschland eine stabile Regierung behält", sagte er der Deutschen Presse-Agentur.

Forderungen nach einem Ende der großen Koalition gab es aus Union und SPD zunächst nur vereinzelt. Sylvia Pantel, Sprecherin des konservativen Berliner Kreises in der Union, sagte der "Bild"-Zeitung: "Jetzt ist klar: Die GroKo ist am Ende." Der Vizepräsident des SPD-Wirtschaftsforums, Harald Christ, rechnet laut Zeitung mit einem Scheitern des Bündnisses. "Alles andere führt zu nichts."

Die SPD hatte bei der Europawahl mit 15,8 Prozent ihr bisher schlechtestes Ergebnis bei einer bundesweiten Wahl eingefahren und war von den Grünen erstmals als zweitstärkste Kraft abgelöst worden. Zudem gab sie bei der Landtagswahl in Bremen nach 73 Jahren ihre Spitzenposition ab. In der ersten Umfrage zur Bundestagswahl nach dem schwarzen Wahlsonntag stürzte die SPD am Wochenende noch weiter ab: von 17 auf 12 Prozent im Vergleich zur Vorwoche (Forsa für RTL und n-tv).

Nahles hatte nach den Wahlschlappen angekündigt, in der Fraktion am kommenden Dienstag mit einer vorgezogenen Vorsitzenden-Neuwahl die Machtfrage zu stellen. Bei einer Sonderfraktionssitzung am Mittwoch war dann deutlich geworden, dass die 48-Jährige nur noch wenig Rückhalt hatte. Die Sitzung wurde zu einer Art Scherbengericht für sie und hat möglicherweise den Ausschlag für ihre Entscheidung gegeben.

Nahles war nach dem schlechten Abschneiden der SPD bei der Bundestagswahl 2017 Fraktionsvorsitzende geworden und im April 2018 als erste Frau an die Spitze der Partei gewählt worden. Sie hatte sich dafür eingesetzt, nach dem Scheitern der Verhandlungen über eine "Jamaika-Koalition" von Union, Grünen und FDP wieder in eine große Koalition einzutreten. Die Entscheidung ist in der SPD bis heute höchst umstritten.

Als mögliche Nachfolger von Nahles an der Parteispitze wurden bisher vor allem die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, und der niedersächsische Regierungschef Stephan Weil gehandelt. Auch Vizekanzler Olaf Scholz könnte jetzt wieder ins Spiel kommen. Als möglicher Kandidat für den Fraktionsvorsitz gilt der bisherige Vizechef Achim Post. Der SPD-Linke Matthias Miersch und Ex-Kanzlerkandidat Martin Schulz hatten noch vor der Rücktrittsankündigung erklärt, nicht gegen Nahles antreten zu wollen

- was nicht automatisch bedeutet, dass sie eine Kandidatur

grundsätzlich ausschließen.

Die ursprünglich für kommenden Dienstag geplante Neuwahl des Fraktionsvorsitzes soll nicht stattfinden. Der geschäftsführende Fraktionsvorstand habe sich am Sonntag einstimmig dafür ausgesprochen, dem Fraktionsvorstand und der Fraktion dies zu empfehlen, schrieb der Parlamentarische Geschäftsführer Carsten Schneider in einer der Deutschen Presse-Agentur vorliegenden Mail an die Abgeordneten. Mützenich sei gebeten, die Geschäfte des Fraktionsvorsitzenden bis zu einer Neuwahl kommissarisch übernehmen.

In der Partei ist es komplizierter. Der nächste Parteitag ist für Dezember geplant. Sollte der Wechsel früher vollzogen werden, wäre dafür ein Sonderparteitag notwendig. Auch eine Mitgliederabstimmung über die Nahles-Nachfolge wurde schon ins Gespräch gebracht.

SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sagte, erste personelle Fragen sollten an diesem Montag im Parteivorstand geklärt werden. Auf die Frage, ob die Dreyer die Parteiführung kommissarisch übernehmen solle, sagte Klingbeil im Fernsehsender "Phoenix": "Ich würde mir wünschen, dass sie in den kommenden Wochen und Monaten jetzt auch mehr Verantwortung übernimmt."

Kurz vor ihrer Entscheidung hatte Nahles noch demonstrative Rückendeckung von ihren Stellvertretern im Parteivorstand bekommen. Auch das konnte sie aber nicht mehr umstimmen. Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) bedauerte den Rücktritt. "Das Land und die SPD haben Andrea Nahles viel zu verdanken", sagte der Finanzminister. In schwierigen Zeiten habe sie die Verantwortung übernommen und den Erneuerungsprozess in der Partei begonnen. "Die SPD befindet sich nicht erst seit der Europawahl in einer schwierigen Lage - wichtig ist daher, dass wir zusammenbleiben und die nächsten Schritte gemeinsam gehen."

Der SPD-Abgeordnete Florian Post nannte den Rücktritt dagegen "richtig und konsequent". Er sagte der Deutschen Presse-Agentur: "Das war die letzte Möglichkeit, den Riss und die Spaltung wieder zu kitten." Post hatte Nahles in den vergangenen Tagen scharf kritisiert.

Mehrere SPD-Politiker zeigten sich erschüttert über den Umgang mit Nahles. "Da hat auch Frauenfeindlichkeit eine Rolle gespielt", sagte Fraktionsvize Karl Lauterbach der "Welt". "Wir müssen darüber nachdenken, ob wir mit diesem Umgang tatsächlich Vorbild sein können." Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth, nannte den öffentlichen Umgang mit Nahles "schändlich". "Einige in der SPD sollten sich schämen." Ex-Parteichef Sigmar Gabriel sagte: "Die SPD braucht eine Entgiftung."

Die AfD forderte den Rücktritt der gesamten Bundesregierung. "Wen interessiert überhaupt noch, ob eine Andrea Nahles zurücktritt und wer ihr dann als nächster politischer Konkursverwalter der früheren Volkspartei SPD nachfolgt?", erklärte AfD-Chef Jörg Meuthen. "Wer in diesem Land endlich zurücktreten muss, um den Weg für einen wirklichen Neuanfang freizumachen, ist Angela Merkel und mit ihr die gesamte Bundesregierung."/mfi/bw/bk/DP/he

Eintrag hinzufügen
Hinweis: Sie möchten dieses Wertpapier günstig handeln? Sparen Sie sich unnötige Gebühren! Bei finanzen.net Brokerage handeln Sie Ihre Wertpapiere für nur 5 Euro Orderprovision* pro Trade? Hier informieren!
Es ist ein Fehler aufgetreten!