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29.06.2015 20:52:37

Schwäbische Zeitung: Eine Altlast der Nazi-Juristen - Leitartikel zum Mordparagrafen

Ravensburg (ots) - Es gibt beklemmende Situationen in deutschen Gerichtssälen. Da ist einer des Totschlags angeklagt, weil er seine Partnerin umgebracht haben soll. Eine Beziehungsstraftat. Während der Verhandlung kommt dem Vorsitzenden Richter der Verdacht, die Tat könnte nicht im Affekt, sondern geplant und womöglich noch heimtückisch begangen worden sein. Ergebnis: Der Angeklagte, der einen erbärmlichen Strafverteidiger an der Seite hat, wird nicht wegen Totschlag, sondern als Mörder zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.

Der Mordparagraf ist eine Spezialität des deutschen Strafgesetzbuches. Alle anderen Paragrafen beschreiben Verhaltensweisen, die man vermeiden sollte, wenn man sich nicht strafbar machen will. Wer also stiehlt oder betrügt oder jemanden verprügelt, der muss mit dieser oder jener Strafe rechnen. Der Paragraf 211 fällt völlig aus diesem Rahmen. Er umschreibt nicht eine Tat, sondern einen Tätertyp, eben den Mörder. "Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft" heißt es eingangs, und dann wird aufgelistet, wer als Mörder zu gelten hat. Ist eines der Mordmerkmale gegeben, dann hat das Gericht keinen Spielraum mehr. Erfunden haben diesen Sonderparagrafen die Nazis - und so, wie sich die braunen Juristen den Mörder konstruiert haben, so steht er noch heute im Strafgesetzbuch. Die Bestimmung ist eine unselige Altlast.

Denn oft sind nicht nur die Grenzen zwischen Mord und Totschlag verschwommen. Es gibt auch jene Fälle, in denen man ein Tötungsdelikt als eine Art verzweifelter Notwehr werten kann. Dennoch ist die Frau, die ihren jahrelangen Peiniger im Schlaf ersticht, wegen des Mordmerkmals Heimtücke unweigerlich eine Mörderin - mit dem Stigma des schlimmsten aller Verbrechen. Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Es wird immer Straftäter geben, die ein "lebenslang" verdienen. Es wird immer Verbrecher geben, vor denen man die Gesellschaft dauerhaft schützen muss. Aber die Richter müssen vom Korsett des Mordparagrafen befreit werden.

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Pressekontakt: Schwäbische Zeitung Redaktion Telefon: 0751/2955 1500 redaktion@schwaebische-zeitung.de

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