21.05.2014 20:19:58
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Mittelbayerische Zeitung: Hartz IV für alle? / Europa braucht soziale Grundstandards und Deutschland Zuwanderung, statt polemischer Kampagnen. Leitartikel von Reinhard Zweigler
Regensburg (ots) - Was dem einen sin Uhl, ist dem anderen sin
Nachtigall, sagt ein norddeutsches Sprichwort. Leistungen nach dem
Sozialgesetzbuch II zu beziehen, im Volksmund Hartz IV, ist für
betroffene Deutsche nicht gerade erstrebenswert, also eher die Eule.
Für Menschen aus anderen Ländern jedoch, die von einer solchen
Grundsicherung nur träumen können, ist Hartz IV gewissermaßen die
Nachtigall. Insofern dürfte das anstehende Urteil des Europäischen
Gerichtshofes (EuGH) im Fall einer 24-jährigen Rumänin, die in
Leipzig lebt, aber hier offenbar noch nie gearbeitet hat, von großer
Bedeutung sein. Es geht in dem Verfahren um die Frage, ob EU-Bürger
in Deutschland Anspruch auf Sozialleistungen haben oder nicht. Also
Hartz für alle? Das Thema ist hochemotional beladen und politisch
äußerst brisant. Und es ist wohl kein Zufall, dass ausgerechnet
wenige Tage vor der Europawahl der Generalanwalt des EuGH erkennen
lässt, dass Deutschland seine Sozialleistungen bestimmten EU-Bürgern
durchaus verweigern kann. Auf der anderen Seite hat die
Bundesregierung, ebenfalls kurz vor dem Urnengang am Sonntag, sein
Gesetzesvorhaben gegen Sozialmissbrauch durch Ausländer
"durchgestochen", also in die Öffentlichkeit lanciert, ehe das Gesetz
überhaupt vernünftig abgestimmt werden konnte. Nach dem, was bislang
zu hören ist, will Berlin Härte zeigen gegen Sozialmissbrauch durch
Ausländer. Es drohen harte Strafen, wie Abschiebung, Einreiseverbot,
Haft oder Geldbußen. Es wird die harte Linie fortgeschrieben, die im
Grunde auch gegen deutsche Hartz-IV-Bezieher gefahren wird.
Allerdings ist das heftige Eindreschen auf ausländische
Sozialbetrüger, die es sicher auch gibt und gegen die vorgegangen
werden muss, äußerst einseitig und zudem wahltaktisch motiviert. Das
Motto der CSU, "Wer betrügt, der fliegt", ist zwar stammtischmäßig
griffig, doch es geht an dem in Wirklichkeit vielschichtigen Problem
vorbei. Die alternde deutsche Gesellschaft ist auf der anderen Seite
nämlich auf Zuwanderung dringend angewiesen. Das gilt für die
Wirtschaft, die fehlende Fachkräfte beklagt. Das gilt für den
Dienstleistungssektor, der ohne ausländische Mitarbeiter, vielerorts
ins Schlingern geriete. Das gilt für unsere Sozialsysteme, denen die
Beitragszahler wegbrechen. Viel zu kurz kommt in der aufgeregten
Debatte die Tatsache, dass Ausländer viel mehr zur Wirtschafts- und
Steuerkraft Deutschlands beitragen, als sie aus unseren
Sozialsystemen beziehen. Und um die Wanderung in andere Sozialsysteme
zu verhindern, braucht Europa soziale Grundstandards. Die Europäische
Union der offenen Grenzen, der Freizügigkeit und des freien
Warenverkehrs braucht dringend ihre soziale Erweiterung. Und
Deutschland benötigt ein nach vorn gerichtetes Konzept für mehr
Zuwanderung. Die jetzigen polemischen Abwehrschlachten in Sachen
"Armutszuwanderung" sind eher kleinkariert, sind von gestern.
Freilich kann sich die CSU nun erst einmal bestätigt fühlen. Die von
ihr vom Zaune gebrochene Debatte um "Sozialschmarotzer" aus Rumänien
oder Bulgarien zeitigt vordergründig gesetzgeberische Konsequenzen.
Die Frage ist nur, ob die CSU mit ihren flotten Parolen langfristig
nicht eher das Geschäft der Europa-Kritiker von der AfD besorgt? Oder
sogar Wasser auf die Mühlen der Rechtsextremen schüttet?
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