22.12.2024 16:37:38

ROUNDUP 2: Entsetzen und offene Fragen nach Anschlag von Magdeburg

(aktualisierte Fassung)

MAGDEBURG (dpa-AFX) - Nach dem Weihnachtsmarkt-Anschlag von Magdeburg mit fünf Toten und vielen Schwerverletzten rückt die Aufarbeitung möglicher Behördenversäumnisse in den Fokus. Bundesinnenministerin Nancy Faeser sagte eine umfassende Aufklärung der Tat zu. "Die Ansichten und Äußerungen, die der Täter kundgetan hat, werden ebenso untersucht wie die Hinweise und Verfahren, die es bei verschiedenen Behörden und der Justiz gab", sagte die SPD-Politikerin. Der Täter Taleb A. war bereits vor Jahren mit Drohungen aufgefallen. Mehrere Behörden wurden auf ihn hingewiesen.

Der 50-Jährige war am Freitagabend mit einem Mietwagen auf einem Weihnachtsmarkt in der Landeshauptstadt von Sachsen-Anhalt durch die Menschenmenge gerast. Dabei wurden ein neunjähriges Kind sowie vier Frauen getötet und mehr als 200 Menschen teils schwerst verletzt. Taleb A. wurde unmittelbar nach der Tat festgenommen.

Der Arzt aus Bernburg südlich von Magdeburg stammt aus Saudi-Arabien, lebt seit 2006 in Deutschland und erhielt 2016 Asyl als politisch Verfolgter. Er ist als islamkritischer Aktivist bekannt und befindet sich inzwischen in Untersuchungshaft. Ihm werden fünffacher Mord, mehrfacher versuchter Mord und mehrfache gefährliche Körperverletzung vorgeworfen.

Faeser: Täter passt in kein bisheriges Raster

Den Behörden gibt das Profil des Mannes bislang Rätsel auf. "Es gilt, alle Erkenntnisse zusammenzufügen, die ein Bild über diesen Täter ergeben, der in kein bisheriges Raster passt", sagte Faeser. Der Täter habe unfassbar grausam und brutal gehandelt - "in der Begehungsweise wie ein islamistischer Terrorist, obwohl er ideologisch offenbar ein Islamfeind war".

Der Präsident des Bundeskriminalamts (BKA), Holger Münch, sagte im ZDF, der Tatverdächtige habe eine islamfeindliche Einstellung, er habe sich auch mit rechtsextremen Plattformen beschäftigt. Es sei aber noch nicht abschließend möglich zu sagen, dass die Tat politisch motiviert gewesen sei.

Bereits 2013 auffällig

Taleb A. war in den vergangenen Jahren an verschiedenen Stellen aufgefallen: Im Jahr 2013 verurteilte ihn das Amtsgericht Rostock zu 90 Tagessätzen wegen Störung des öffentlichen Friedens. Nach Angaben von Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Christian Pegel (SPD) hatte er im Streit um die Anerkennung von Prüfungsleistungen mit einer Tat gedroht, die internationale Beachtung bekommen werde. Dabei habe er auf den Anschlag beim Boston-Marathon verwiesen. Im Zuge einer Durchsuchung seien jedoch keine Hinweise auf eine reelle Anschlagsvorbereitung gefunden worden.

Auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) erreichte im Spätsommer 2023 nach eigenen Angaben über seine Social-Media-Kanäle ein Hinweis zu Taleb A. "Dieser wurde, wie jeder andere der zahlreichen Hinweise auch, ernst genommen", schrieb das Bamf auf der Plattform X. Die hinweisgebende Person sei, wie in solchen Fällen üblich, direkt an die verantwortlichen Behörden verwiesen worden.

Die Magdeburger Polizei hatte vor einem Jahr eine Strafanzeige aufgenommen. Der Berliner Amtsanwaltschaft lag zudem ein Verfahren wegen des Missbrauchs von Notrufen durch Taleb A. vor. Zuerst hatte der "Spiegel" darüber berichtet.

Verfahren nach Hinweis aus Saudi-Arabien

Nach von BKA-Chef Münch wurde nach einem Hinweis aus Saudi-Arabien zu dem Mann im November 2023 ein Verfahren eingeleitet. Die Sache sei aber unspezifisch gewesen. "Er hat auch verschiedene Behördenkontakte gehabt, Beleidigungen, auch mal Drohungen ausgesprochen. Er war aber nicht bekannt, was Gewalthandlungen angeht", sagte Münch im ZDF.

Faeser kündigte an, dass sie die innenpolitischen Sprecher der Bundestagsfraktionen am Montag erneut über den aktuellen Erkenntnisstand unterrichten werde. "In einer möglichen Sondersitzung des Innenausschusses werden die Spitzen unserer Sicherheitsbehörden und ich erneut über den Ermittlungsstand informieren." Zuvor hatten bereits Politiker mehrerer Parteien Aufklärung verlangt. Für Debatten sorgt auch, dass der Täter trotz eines Sicherheitskonzepts mit seinem Wagen auf den Weihnachtsmarkt gelangen konnte.

Was könnte das Tatmotiv sein?

Der Leitende Oberstaatsanwalt Horst Walter Nopens nannte am Samstag als mögliches Motiv des Täters Unzufriedenheit über den Umgang mit Flüchtlingen aus Saudi-Arabien in Deutschland. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft sagte, die Äußerungen des Mannes zur Motivlage hätten eher wirr geklungen.

In sozialen Netzwerken präsentierte sich der Festgenommene als vehementer Kritiker des Islams und des repressiven Machtapparats in Saudi-Arabien. Zugleich setzte er sich für die Belange vor allem von Frauen aus seinem erzkonservativ geprägten Heimatland ein.

Erst vor rund zehn Tagen veröffentlichte die amerikanische Plattform "RAIR", die sich selbst als antimuslimische Graswurzel-Organisation beschreibt, ein mehr als 45 Minuten langes Interview mit dem Arzt. Darin warf er der deutschen Polizei vor, das Leben saudischer Asylsuchender, die sich vom Islam losgesagt hätten, gezielt zu zerstören. Zudem präsentierte er sich als Fan von X-Inhaber Elon Musk, der inzwischen Positionen der amerikanischen Rechten vertritt, und der AfD, die die gleichen Ziele wie er verfolge. Gleichzeitig bezeichnete er sich aber politisch als links.

Hunderte trauern um Anschlagsopfer

In Magdeburg sitzt der Schock nach dem Anschlag tief. Der Tatort ist seit Sonntagnachmittag wieder für Passanten freigegeben. Viele Menschen nutzten die Gelegenheit und spazierten zwischen den geschlossenen Buden. Hunderte Menschen kamen zu einer Mahnwache an der Johanniskirche zusammen, dem zentralen Ort der Trauer in Magdeburg. Viele Menschen hatten Tränen in den Augen und hielten sich gegenseitig im Arm. Sie standen schweigend mit Blick auf das stetig wachsende Blumenmeer.

Bereits am Samstagabend versammelten sich zahlreiche Menschen zu einem Gedenkgottesdienst. Neben Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) waren auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vor Ort. Es gab in der Magdeburger Innenstadt aber auch eine Kundgebung mit rechten Parolen.

Scholz hatte zuvor bei einem Besuch am Tatort von einer "furchtbaren, wahnsinnigen Tat" gesprochen. Es gebe keinen friedlicheren und fröhlicheren Ort als einen Weihnachtsmarkt. Jetzt sei wichtig, dass man aufkläre, mit aller Präzision und Genauigkeit, sagte er. Zugleich rief der dazu auf, "dass wir als Land zusammenbleiben, dass wir zusammenhalten, und dass wir uns unterhaken, dass nicht Hass unser Miteinander bestimmt"./csd/bg/cht/mov/DP/he

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