Unternehmen in der Krise 17.06.2022 23:00:00

Sanktionen bringen russischen Tech-Sektor ins Straucheln - "Strukturwandel" erwartet

Sanktionen bringen russischen Tech-Sektor ins Straucheln - "Strukturwandel" erwartet

• Sanktionen gegen zahlreiche Branchen
• Russische Tech-Branche in der Krise
• Wirtschaftseinbruch erwartet


Westliche Sanktionen gegen Russland

Bereits seit mehr als drei Monaten wütet der Krieg in der Ukraine, nachdem Russland am 24. Februar nach einem langjährigen Konflikt in das Nachbarland einmarschierte. Westliche Länder reagierten auf den Angriff mit verschiedenen Sanktionspaketen gegen den Kreml, die sich unter anderem auf finanzielle Transaktionen, Transportmittel und Energielieferungen erstrecken, aber auch gegen individuelle Personen, wie Russlands Präsident Wladimir Putin selbst oder den Außenminister Sergej Lawrow, gerichtet sind. Aber auch russische Unternehmen leiden unter den Maßnahmen - besonders im Technologiesektor. Nach Berichten der "Financial Times" haben die Sanktionen schwerwiegende Folgen für die Versorgung russischer Konzerne mit Hardware.

Dramatische Zuspitzung des Chipmangels

Im Rahmen der Einschränkungen haben etwa große Chiphersteller wie Samsung, Intel, QUALCOMM und TSMC ihre Geschäfte in Russland und damit auch sämtliche Lieferungen eingestellt. Halbleiter werden aber nicht nur für die Herstellung von Computern benötigt, sondern kommen auch bei der Produktion von Autos, Haushaltsgeräten - und auch militärischen Geräten - zum Einsatz. Aber nicht nur einzelne Komponenten können durch die Sanktionen nicht mehr oder nur erschwert ins das Land eingeführt werden, auch bereits hergestellte Elektrogeräte wie Server oder Smartphones fallen unter die Einschränkungen. "Komplette Lieferwege für Server, Computer und iPhones - einfach alles - sind weg", zitiert das Blatt einen Chipmanager.

Kein 5G-Ersatz für russische Telekommunikationsbranche

Konkrete Leidtragende dürften aber unter anderem Telekommunikationsunternehmen sein. Grund dafür dürfte der neue 5G-Mobilfunkstandard sein, der vor allem von Nokia, Ericsson und Huawei vorangetrieben wurde und für den es der Financial Times zufolge keinen heimischen Ersatz gebe. Daher sei es wahrscheinlich, dass Russland Geräte, die auf dem Vorgänger 4G basieren, auf dem Sekundärmarkt einkauft, wie Grigory Bakunov, ein ehemaliger leitender Angestellter des russischen Google-Konkurrenten Yandex, betont. Bakunov rechnet damit, dass die russische Regierung Tech-Unternehmen davon abraten wird, Konkurrenzprodukte zu westlichen Anbietern aufzubauen, wie das Uber-Äquivalent von Yandex oder der Facebook-Alternative VK. "So löst man die Frage, was man in den nächsten fünf Jahren ohne Infrastruktur tun soll", erklärt der Experte weiter. "Man reduziert den Geräteeinsatz, indem man den Wettbewerb immer weiter aufgibt."

Aufstrebendes Cloud-Geschäft trifft auf Widerstände

Darüber hinaus gilt das Geschäft mit Cloud-Computing für Yandex als weiterer großer Geschäftsbereich. Auch die Sberbank, Russlands größte Bank vor der VTB Bank und der Gazprombank, hat den Geschäftsbereich als Chance erkannt. Der Markt habe ein großes Potenzial, heißt es in dem Bericht weiter, weil Russland in den letzten Jahren neue Gesetze erlassen hatte, die Firmen in die Verantwortung nehmen, ihre Daten auf russischen Servern zu speichern. Die Sanktionen gegen das Land dürften den Plänen der russischen Großkonzerne in Bezug auf das Cloud-Geschäft aber ebenfalls einen Strich durch die Rechnung machen. Die größten Cloud-Anbieter des Landes, Yandex, VK Cloud Solutions und SberCloud, haben offenbar einen deutlichen Nachfragezuwachs vernommen, da russische Konzerne ihre Dienste nicht mehr im Ausland hosten wollen, wie aus einem Bericht des Analyseunternehmens IDC hervorgeht, auf den sich die Financial Times bezieht. Durch den Mangel an starker Hardware ist der Ausbau der Rechenzentren, der nötig wäre, um der gestiegenen Nachfrage Herr zu werden, aber ein äußerst schwieriges Unterfangen. VK Cloud Solutions soll die russische Regierung etwa um Unterstützung bei der Beschaffung von "Zehntausenden von Servern" gebeten haben.

Im vergangenen Jahr erhielt Russland nach Angaben von IDC noch 158.000 der gängigen x86-Server: 27 Prozent stammten von russischen Herstellern, 39 Prozent von US-amerikanischen und europäischen Produzenten und der restliche Anteil aus asiatischer Herstellung.

Abhängigkeit vom Ausland wird Chip-Konzernen zum Verhängnis

Russische Chiphersteller fallen seit Inkrafttreten der Sanktionen aber weiter in ihrem Produktionsvolumen zurück. Zwar verfügt das Land mit JSC Mikron, MCST und Baikal Electronics über einige eigene Chip-Konzerne, diese beziehen ihre Materialien jedoch normalerweise vor allem von Herstellern aus dem Ausland, darunter dem chinesischen Halbleiterhersteller SMIC, dem US-Konzern Intel oder der deutschen Infineon AG. Besonders MCST und Baikal beziehen ihre Halbleiter in der Regel aus in Taiwan und Europa. MCST wolle nun aber die Verlagerung der Produktion in russische Fabriken von JSC Mikron prüfen, um "würdige Prozessoren mit souveräner russischer Technologie" herzustellen, wie die Financial Times mit Berufung auf das Wirtschaftsportal "RBC" berichtet. Im vergangenen Jahr soll die Sberbank sich aber gegen MCSTs Elbrus-Chips ausgesprochen haben, da diese bei Tests eine "katastrophale" Performance gezeigt hätten und nicht mit einem vergleichbaren Produkt von Intel mithalten würden.

Neue Importregel soll Russland Schlupfloch bieten

Abhilfe schaffen könnte hier aber eine Importregelung, die Russland erst kürzlich eingeführt hat und Parallel-Importe ermöglichen soll. Damit dürfen russische Händler unterschiedliche Produkte, darunter Smartphones, Autos, Chips und Server, aus dem Ausland importieren, auch wenn die Hersteller selbst ihre Geschäfte in dem Land gestoppt haben, wie der "FOCUS" schreibt. So liefert Apple zwar offiziell keine iPhones mehr nach Russland, das Land kann die Telefone aber in benachbarten Staaten einkaufen und dann unter die russische Bevölkerung bringen - auch wenn der iKonzern dem nicht zustimmt. "Einige Unternehmen haben Lieferungen aus Kasachstan organisiert", zitiert die Financial Times den Leiter des Internet Research Institute in Moskau, Karen Kazaryan. "Einige chinesische Unternehmen aus der zweiten Reihe sind bereit, zu liefern. Es gibt eine Reserve von Bauteilen in russischen Lagern ... aber es ist nicht die Menge, die sie brauchen, sie ist nicht stabil, und die Preise sind mindestens zweimal gestiegen".

Klagewelle gegen H&M, Volkswagen & Co.

Zuletzt machten außerdem Medienberichte über eine Klagewelle gegen westliche und japanische Konzerne die Runde, die ihre Verkäufe in Russland nach Kriegsbeginn eingestellt hatten. Laut dem "Spiegel" seien bereits Konzerne wie die Modehändler H&M sowie die Autobauer Volkswagen, Mercedes-Benz und Toyota Ziele solcher Klagen oder entsprechender Androhungen gewesen. Im Fall von H&M will etwa der russische Anwalt Dmitrij Katschan unterbinden, dass der Online-Shop des schwedischen Unternehmens Artikel zwar als "verfügbar" anzeige und auch Preise in Rubel ausweise, ein Kaufabschluss aber nicht möglich sei. Um dadurch erfahrene "emotionale Schäden" auszugleichen, fordere er daher einen Schadensersatz in Höhe von 700.000 Rubel. Des Weiteren will die "Vereinigte Verbraucher Initiative" (OPI) gegen verschiedene Autohersteller vorgehen, die ihre Aktivitäten in Russland "ungesetzlich" eingestellt haben, da dies die Rechte der Verbraucher verletze, heißt es bei der Nachrichtenseite weiter.

China übt sich in Zurückhaltung - und beliefert Russland trotzdem kaum

Russland habe darüber hinaus die Verlagerung der Produktion unterschiedlicher Hardwareteile nach China geprüft, bislang gebe es jedoch keine Signale aus der Volksrepublik, dem Land diesbezüglich unter die Arme zu greifen. Zwar hielt sich das Reich der Mitte bislang zurück, was Sanktionen gegen Russland angeht, nach Berichten des Blatts weigern sich chinesische Unternehmen aber mehrheitlich, das Land zu beliefern, selbst wenn dies eigentlich erlaubt wäre. Auch sei die Bereitstellung von Geräten mit veralteter Technologie prinzipiell denkbar, aber auch dies werde in den meisten Fällen nicht umgesetzt, wie ein führender Vertreter der Chipindustrie gegenüber der Wirtschaftszeitung betont.

"Strukturwandel" für Russlands Wirtschaft erwartet

Alles in allem dürften die Beschränkungen gegen Russland nicht nur den Tech-Sektor des Landes ins Straucheln bringen, sondern auch die gesamte Wirtschaft des Staats belasten. Elvira Nabiullina, die Chefin der russischen Zentralbank, stellte im Rahmen westlicher Sanktionen im April gar einen "Strukturwandel" in Aussicht, wie die Nachrichtenagentur "Reuters" berichtet. "Probleme können selbst bei einer Produktion mit hohem Lokalisierungsgrad auftreten", hieß es in einer Rede. Für das Gesamtjahr rechnen die Währungshüter daher mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um zehn Prozent, Wirtschaftsexperten prognostizieren gar ein Minus von 15 Prozent. Nach Angaben des nationale Statistikamts, stieg das Bruttoinlandsprodukt des Landes zwischen Januar und März um 3,5 Prozent, nachdem die im vierten Quartal 2021 noch ein Zuwachs um 5,0 Prozent vermeldet wurde.

Redaktion finanzen.at

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